Blog prof. René Prêtre
MISSION KAMBODSCHA 2018, 1. NOVEMBER
Post by René Prêtre
Donnerstag, 1. November
Wie gestern Abend, leidet beim Frühstück immer noch mehr als die Hälfte des Teams an stechenden Bauchschmerzen. Zum Glück ist es ruhig auf der Intensivstation; es gab keine Probleme im Verlaufe der Nacht und alle Kinder sind gut erwacht.
Der Fall des heutigen Tages ist kompliziert. Diese Operationstechnik ist sehr schwer, weswegen wir sie über lange Zeit abgelehnt haben. Bei diesem 14-monatigen Kind werden die Lungen nicht vom Herzen selbst, sondern von Arterien, die der Aorta entspringen, mit Blut versorgt. Um eine noch präzisere Diagnose zu stellen, haben wir zusätzlich eine Angiographie gemacht. Diese zeigt fünf Gefässe (zwei auf der linken und drei auf der rechten Seite), die von der Aorta ausgehen. Diese Fehlbildung führt langsam zum Tod, denn die Lungen werden durch den hohen Druck, dem sie ausgesetzt sind, zerstört. Ohne Chirurgie tritt eine fortschreitende Asphyxie auf, gegen die nichts unternommen werden kann. Ein solch «schleichender Tod» kann viele Jahre andauern, kein Kind wird dabei aber älter als zehn Jahre. Je schneller die Korrektur vorgenommen wird, je kürzer die Zeitspanne also, während der die Lungen unter dem Bluthochdruck leiden, desto besser die Ergebnisse.
Uns erwartet also eine sehr komplexe Operation, die tief im Körperinnern stattfindet (die Lungengefässe entspringen der Aorta descendens, diesem Teilstück der Aorta, das entlang der Wirbelsäule verläuft).
14 Uhr
Die Korrektur ist gut verlaufen. Wie vorgesehen, kam hier extrem schwierige und peinlich genaue Chirurgie zum Einsatz, die es ermöglichte, die Lungengefässe wieder aufzubauen und diese mit der rechten Herzkammer zu verbinden. Bei dieser Gelegenheit haben wir gleich eine (in diesen Fällen automatisch vorhandene) Verbindung zwischen den zwei Herzkammern schliessen können. Das Herz arbeitet wieder kräftig, und der Sauerstoffgehalt im Blut ist (endlich) normal. Die Herz-Lungen-Maschine wurde angehalten, die Kanülen entfernt und das Protamin, wodurch dem Blut wieder eine gewisse Gerinnung zurückgegeben werden kann, verabreicht. Jetzt muss das Operationsfeld trocknen, bevor wir alles wieder schliessen können. Ich habe den Operationssaal verlassen und diese Aufgabe Ladin übergeben. Mein Rücken schmerzt, und ich lege mich eine halbe Stunde auf eine Bahre, die sich im Materialraum befindet. Ich treffe auf ein paar Kollegen, denen gegenüber ich meine Zufriedenheit ausdrücke.
18 Uhr
Auf den Sonnenschein folgt das Unwetter!
Alles begann mit einer kleinen widerspenstigen Blutung, die auch nach mehrfachen Versuchen, sie durch Tamponieren zu stoppen, nicht versiegen wollte. An dieser Stelle muss gesagt werden, dass insbesondere hier eine normale Gerinnung schwer zu erzielen ist, da viele Kinder an chronischer Unterernährung leiden. Tatsächlich wird diese fragile Situation des Nährstoff- und Vitaminmangels sowohl durch ihr soziales Niveau aber auch auch durch die Herzkrankheit hervorgerufen. Nach über einer Stunde Tamponieren und der Verabreichung von klassischen Medikamenten konnten wir noch immer nicht das kleinste Blutgerinnsel sehen, und das Blut sickert noch immer durch die Naht. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu versuchen, das Blut durch eine zweite, darüberliegende Naht zum Versiegen zu bringen – dafür braucht es den feinstmöglichen Faden, denn das Gewebe ist derart fein und und schwach. Der Knopf, der sich im Faden gebildet hat, entgeht mir jedoch. Anstatt die Gefässwände näher zusammenzubringen, reisst der Knopf beim Durchziehen des Fadens diese noch weiter auf. Nun handelt es sich nicht mehr um ein störendes widerspenstiges Sickern sondern eher um eine pulsierende Blutung. Jeder weitere Stich wird verunmöglicht. Das Gefäss ist einer so starken Spannung ausgesetzt, dass das Risiko, den Riss noch zu vergrössern, zu gross ist. Die einzige Möglichkeit, die Situation unter Kontrolle zu bringen, besteht darin, wieder die Herz-Lungen-Maschine anzuschliessen und damit das besagte Gefäss zu leeren (den gesamten Blutdruck wegzunehmen), um diese so entscheidenden Werte einstellen zu können. Das Problematische dabei ist, dass die Blutgerinnung unbedingt wieder gehemmt werden muss, damit das Blut nicht im externen, künstlichen Kreislauf gerinnt. Dieses Manöver ist zwingend, wird aber die bereits mangelhafte Blutgerinnung noch mehr beeinträchtigen. Erneut lege ich die Kanülen, und wir starten die Maschine. Das Herz leert sich und der Druck in den Lungenarterien geht zurück. Ich schliesse den Riss mit einem ähnlichen, sehr feinen Faden, wir lassen das Herz wieder arbeiten und stoppen die Herz-Lungen-Maschine. Leider wirkte sich diese erneute Blutgerinnungshemmung etwa aus wie ein Stockschlag auf einen Ameisenhaufen, und dieses Mal fängt das Kind überall an zu bluten. Diese Blutung selber ist nicht so entscheidend, aber sie hindert uns daran, das Sternum in diesem Zustand zu schliessen. Wieder und wieder legen wir Kompressen auf alle blutdurchtränkten Stellen, in der Hoffnung, die Blutung stillen zu können. Nach vier beschwerlichen (und deprimierenden) Stunden erreichen wir endlich ein einigermassen trockenes Operationsfeld und können somit eine Verlegung auf die Intensivstation ins Auge fassen. Der zweite extrakorporelle Kreislauf und die verabreichten Infusionen und Medikamente haben die Lage allerdings massiv verschlechtert. Das Herz hat sichtbar einen Teil seiner Kraft verloren, der Blutdruck ist nicht mehr so luxuriös wie zu Beginn des Nachmittags. Jetzt muss das Herz richtiggehend gepeitscht werden, um einen zufriedenstellenden Blutdruck aufrecht erhalten zu können. Damit die Arbeit nicht durch irgendeine Kompression aufs Spiel gesetzt wird, entscheiden wir uns, das Sternum offen zu behalten. Es wird mit ein paar feuchten Kompressen und einem sterilen Wundverband zugedeckt. In diesem prekären Zustand verlegen wir das Kind auf die Intensivstation.
19.30 Uhr
Ich bin schnell zum Hotel zurückgekehrt, um ein paar administrative Probleme zu lösen. Bevor ich die Intensivstation verliess, hatte das Kind bereits seinen Platz eingenommen und der Blutdruck stimmte.
20 Uhr
Das Telefon klingelt. Ich höre Davids Stimme:
«Wir massieren!»
Durch eine Hintertür eile ich direkt zur Intensivstation. Das ganze Team hat sich um das Kind versammelt. Yann hat den Verband abgenommen und massiert das Kind am offenen Herzen. Wir können sehen, wie das Herz – insbesondere die rechte Seite – den notwendigen Druck, um den Widerstand der Lungen zu überwinden, nicht mehr erreichen kann. Jedes Mal, wenn er seine Massage unterbricht, dehnt sich die rechte Herzkammer. Sie ist ausserstande, das Blut, das sie zum anschwellen bringt, weiterzutreiben. Alle Medikamente haben wir bereits verabreicht – vergeblich. Es ist unmöglich, die Blutzirkulation ohne Massage aufrechtzuerhalten. Nach einer 45-minütigen Wiederbelebung und dem Einsatz aller Mittel, müssen wir unsere Niederlage eingestehen. Auf dieser grossen Intensivstation, die normalerweise von ständigem Stimmengewirr erfüllt ist, ist jetzt nur noch das Geräusch einiger Monitore zu hören, als ob neben dem Personal auch die anderen Kinder eines von ihnen verabschiedeten.
Ich bitte Ladin, das Sternum zu schliessen, damit ich mit meinem Team die Intensivstation verlassen und die Eltern aufsuchen kann.
21 Uhr
Wir treffen auf die Mutter und ihren ältesten Sohn und erklären ihr die besonders schwierige Situation ihres Kindes und vor allem unser Scheitern. Ich verstehe kein Khmer, aber das brauche ich auch nicht, an ihrem sich verdüsternden Gesicht erkenne ich, dass sie unsere Erklärungen erfasst. Zu meinem Erstaunen dreht sich die Mutter zu mir hin und dankt mir mit gefalteten Händen, bevor sie sich in sich zurückzieht und zu weinen anfängt. Sie wird von Zittern und Schluchzen ergriffen. Ihr Sohn – und wir alle – versuchen, sie zu trösten. Mehrere Male schüttelt sie den Kopf, vermutlich weil sie selbst nicht wirklich glauben kann, was an diesem Tag passiert ist. Nach ein paar Minuten geben sie uns zu verstehen, dass sie sich alleine wieder sammeln möchten. Wir ziehen uns zurück und lassen sie mit ihrem Schmerz allein.
21.45 Uhr
Wir treffen uns im Patio des Hotels. Wir verspüren weder Kraft noch Lust in die Stadt zu gehen. Wir fühlen uns alle wie erloschen und betäubt. Ich nutze die Gelegenheit und bedanke mich bei allen für die exzellente Arbeit. Wir sind gescheitert, das ist wahr, aber es wurde alles getan, um dieses Ergebnis zu vermeiden, und der Einsatz eines jeden war uneingeschränkt und vorbildlich.
Wir bestellen nur ein paar Vorspeisen, denn Appetit verspürt eigentlich niemand. Diesmal liegt dies aber nicht daran, dass unsere Mägen noch etwas durcheinander sind, sondern einfach an unserer Traurigkeit. Gegen Mitternacht kehren wir auf unsere Zimmer zurück.