Blog prof. René Prêtre

Dez 12 2016

Mission Kambodscha 2016, 12. Dezember

Post by René Prêtre

Dez 12 2016

07:45 Uhr.

Wir nehmen am Morgen-Rapport teil, an dem fast das ganze Spitalpersonal anwesend ist, geschätzt zwischen 350 und 400 Personen. Beat (Richner) empfängt uns wie jedes Jahr sehr herzlich.
Am Mikrofon werden die Zahlen der Aufnahmen und Eingriffe der letzten Tage geschildert – die Zahlen sind beeindruckend. Es handelt sich um ein Mutter-Kind-Spital, in dem Mütter entbinden. Sie zählen auf: 71 Geburten am Freitag, 84 am Samstag, 79 am Sonntag.

Ich weiss, dass Herzpathologien bei der Geburt 0,8% ausmachen, hier in diesem einen Spital kommt an jedem zweiten Tag ein solches Kind zur Welt. Hinzukommen weitere Diagnosen, manche sind hier sehr verbreitet (zu verbreitet) wie die Tuberkulose, andere klingen – zumindest für unsere Ohren – exotisch, wie z. B. Bisswunden von Kobras.
Am Ende des Rapports präsentiert uns Beat stolz die Zahlen der Herzeingriffe: Sein Team hat seit unserem letzten Einsatz vor einem Jahr mehr als 450 Kinder operiert. Nun trete ich ans Mikrofon, um ihm und allen anderen zu gratulieren und ihnen zu gestehen, nicht mehr sicher zu sein, ob ich nun gekommen sei, um zu lehren oder um zu lernen.

Wir beginnen unsere diesjährige Mission mit einer Missbildung, die technisch ziemlich einfach zu korrigieren ist: ein Ventrikelseptumdefekt. Ich befürworte es, mit einem einfacheren Eingriff zu starten, die schwierigen werden folgen.
Das Kind ist klein, aber der Eingriff verläuft sehr gut. Ich helfe Ladin bei der Durchführung. Als er den Vorhof näht (der uns als Zugang zum Ventrikelseptumdefekt diente) unterbricht uns Yann, er ist am Telefon mit einem Arzt aus Phnon Penh. Sie haben dort ein 9-jähriges Kind aufgenommen, Opfer einer Explosion einer alten Granate. Der Arzt meint, sie sei stabil und sendet Yann einige CT-Aufnahmen per Mail. Diese sind verstörend: Sie zeigen ein Metallstück – ein Schrapnell? – im Bereich der linken Herzkammer. Die Aufnahmen sind nicht von guter Qualität, es scheint aber, kein Blut in

Das CT zeigt einen leuchtenden Punkt im Herzen – ein Schrapnell?

der Perikard- oder Pleurahöhle zu geben, was uns etwas beruhigt. Selbstverständlich bitten wir den Arzt, uns die Kleine so schnell wie möglich zu schicken. «So schnell wie möglich» dauert hier sechs Stunden, denn der Transport kann nur mit dem Krankenwagen auf verstopften Strassen durchgeführt werden. Wir hoffen nur, dass während all dieser Zeit nichts passiert, denn Kompression kann bei Herz- oder Gefässwunden sehr prekär sein.

Der Nachmittag ist bereits angebrochen, als wir ein zweites Kind anästhesieren: eine Fallot-Tetralogie – die berühmte Blau-Sucht. Wir sind sicher, diesen Eingriff vor der Ankunft des Kindes aus Phnom-Penh zu schaffen. Die Verstopfung der Lungenrinne ist sehr dicht und der Eingriff aufgrund einer ungünstigen Anatomie schwierig. Wir sind jedoch erfolgreich und geben diesem Kind normale Farben und ein erleichtertes Herz zurück. Wir werden sie – es handelt sich um ein kleines Mädchen – die Nacht über in der Betäubung behalten, da wir keine abrupten Blutdruckstösse oder Herzschlagvolumen für ein so leidgeprüftes Herz und auf so frische Nähte wollen.

Es ist 17:00 Uhr. Die Kleine aus Phnom-Penh ist immer noch nicht eingetroffen. Oliver und Dominik haben ihrerseits ein ASD (Atriumseptumdefekt) mit Cavafilter (Katheter zum Herz durch die Vena femoralis) geschlossen und mit einem Ballonkatheter eine Pulmonalklappe geöffnet.
Wir haben diese Nacht somit vier Kinder zu beaufsichtigen. Wir bleiben noch eine gute Stunde in der Intensivstation, dann wollen wir Richtung Hotel aufbrechen.


18:30 Uhr.

Ich wollte mich gerade umziehen, um ins Hotel zu gehen (100m vom Spital entfernt) als Yann mir mitteilt, dass die Kleine endlich angekommen ist. Ich eile zurück auf die Intensivstation und finde sie auf eine Krankentrage. Sie ist sehr ängstlich, ihr Vater ist bei ihr. Wir erfahren, dass ihr Bruder – er war 13 Jahre alt – bei dieser Explosion getötet wurde. Auf ihrem Brustkorb ist eine frische 4mm-Wunde erkennbar, die nicht blutet.

Dr. Sreng, einer unserer lokalen Herzspezialisten, macht ein Echokardiogramm. Wir sind alle um das Kind und seinen Vater versammelt. Sie schaut auf den Bildschirm und entdeckt ihr schlagendes Herz. Zu ihrer Angst gesellt sich nun Staunen. Auf Anhieb bemerken wir einen Erguss in der Perikardhöhle, nicht raumfordernd, aber anwesend.

Ein leuchtender Punkt (das Leuchten zeigt eine absolute Dichte) von 4-5 mm in der linken Herzkammer ist nicht zu übersehen. Dieser Splitter steht praktisch frei und wird eindeutig nur noch durch die dünne Endokardschicht der Herzkammer zurückgehalten. Falls diese nachgibt, wird das Blut aus der Herzkammer in die Perikardhöhle gepumpt, was wir eine «Tamponade» nennen. Diese kann oft sehr schnell fatal sein – und der Splitter selbst würde wie eine Rakete in den Blutkreislauf hinausgeschleudert, wo er schliesslich in den Verzweigungen des Arterienbaums in einem Gefäss seiner Grösse verklemmen wird – und dieses Gefäss verstopft. Die rechte Halsschlagader ist – in der Tangente – die direkte Verbindung zum Blutkreislauf. Wenn diese Arterie verstopft… kommt es zu einem Ischämischen Schlaganfall. Ist dieser ausgeprägt, endet er tödlich, wenn er weniger ausgeprägt ist, führt er zu einer Lähmung. Wir schauen uns an – Yann, David, Ladin, Limheng – keine langen Reden. Wir wissen, dass wir sehr schnell handeln müssen.

«Ist sie nüchtern?»,

fragt Ladin beide. «Ja», ist die Antwort. Ihr Vater hat verstanden, was das bedeutet. Ich bitte Ladin, ihnen die Dringlichkeit der Situation zu erklären. Fafa und Gil sind schon auf dem Weg, um den Operationssaal einzurichten. Ich selbst habe noch eine halbe Stunde Zeit, die ich nutze, um diese Episode zu berichten. Ich höre aber gerade, dass das Bett der Kleine in den Operationssaal geschoben wird – dieser liegt genau neben dem Zimmer, in dem ich schreibe. Ich muss Sie verlassen.

Bis Morgen.