Blog prof. René Prêtre

Dez 15 2016

MISSION KAMBODSCHA 2016, 15. DEZEMBER

Post by René Prêtre

Dez 15 2016

Wir hatten uns darauf geeinigt, eine Stunde länger zu schlafen. Der Appell wurde auf 8 Uhr angesetzt, der Gang in die Mine auf 8:30 Uhr (oft fühle ich mich in der abgeschlossenen Welt des OPs wie im Untertagebau). Die gestrige Odyssee sass uns immer noch in den Knochen. Und der Junge würde uns noch weiter zu schaffen machen!

Es war eine schwierige Korrektur. Das wussten wir auch, aber eigentlich ist sie gut gelaufen. Erst danach haben sich fast unüberwindbare Probleme aufgetan. Das Herz fing an, viel zu schnell zu schlagen – die Herzfrequenz stieg auf 220 Schläge pro Minute –, und die linke Herzkammer verlor an Kraft, da sie dadurch schlecht durchblutet wurde. Wir waren gezwungen, die Herz-Lungen-Maschine ständig zu überwachen, denn ausser durch Adrenalin-Spritzen, die wie Peitschenhiebe wirken und den Herzmuskel sehr ermüden, konnte das Herz den Blutkreislauf nicht mehr alleine aufrechterhalten. Wir haben alles versucht, um die Herzfrequenz zu reduzieren: von den üblichen Medikamenten über kaltes Wasser am Herz bis zur Massage der Halsschlagadern … Nichts wollte helfen. Wir liessen also die Maschine so lang wie möglich laufen (dies ist für ein paar Stunden möglich, dann zersetzt sich das Blut im künstlichen Kreislauf), und arbeiteten weiter, in der Hoffnung, dass sich die Situation normalisieren und das Herz von selbst wieder normal schlagen würde – oder aber auf unsere Medikamente ansprechen würde. Ich nutzte die Situation, um die rechte Herzkammer ebenfalls an den Hauptkreislauf anzuschliessen, und damit den Blutkreislauf so zu verändern, dass dieser die linke, nachlassende Herzkammer unterstützen konnte. Endlich, nach über drei Stunden Wartezeit, in denen wir eine Lösung nach der anderen angegangen waren, normalisierte sich die Herzfrequenz. Erneut hiess es eine Stunde warten, bis sich der Herzmuskel, dessen Durchblutung durch die schnellen Kontraktionen belastet war, erholt hatte, dann starteten wir einen weiteren Versuch, die Herz-Lungen-Maschine abzuschalten.

Wir mussten schrittweise und sehr behutsam vorgehen, damit das neue, empfindliche Gleichgewicht unter Kontrolle gehalten werden konnte. Schliesslich, nach einer erneuten Stunde langsamer Fortschritte, konnten wir die Maschine abschalten: Das Herz kam nun endlich selbst den Bedürfnissen des Kreislaufes nach.

Aber schon erwartete uns das zweite Problem dieser grossen Operationen. Das Blut, das verdünnt wurde, damit sich in den Plastikschläuchen keine Klumpen bilden, gerann nicht mehr. Beim Nähen sickerte bei jedem Nadelstich das Blut durch. Dies bedeutete erneut mühevolle Arbeit: Während wir darauf warteten, dass sich der Blutgerinnungsfaktor normalisierte, mussten wir tamponieren; wir versuchten, die winzigen Löchlein mit Kompressen abzudichten. Dies dauerte Stunden! In unseren Breitengraden wird dieser Prozess mithilfe zahlreicher Medikamente beschleunigt, die die Blutgerinnung wiederherstellen und anregen sollen. Zusätzlich können wir den Transfusionen spezielle Mittel wie zum Beispiel Thrombozytensuspensionen zugeben. Hier gibt es das alles nicht. Wir haben keine andere Mittel zur Verfügung als Geduld … und Hoffnung.

Gegen 18 Uhr erschien Licht am Horizont. Die Kompressen, die wir alle 10 Minuten wechselten, durchtränkten sich zwar noch, aber sie liessen das Blut nicht mehr durch. Dies bedeutete, dass sich die Situation, mit den aufgelegten Kompressen, stabilisiert hatte. Wir würden also die Kompressen während der Nacht weiterhin auf den betreffenden Stellen lassen. Dies zwang uns aber, den Brustkorb geöffnet zu lassen – eine gängige Massnahme in der klassischen Herzchirurgie. Gegen 19 Uhr setzte sich unser Konvoi – mit einem 3 Kilo schweren Kind in seiner Mitte – mit einiger Mühe in Richtung Intensivstation in Bewegung.

Eine Verlegung ist immer heikel, manchmal sogar sehr riskant, und diese hat die Regel leider bestätigt. Irgendwo stand wohl geschrieben, dass sich an diesem Tag die Schwierigkeiten häufen würden. Eines der Infusionsgeräte (diese elektrischen Spritzenpumpen) blockierte. Die Medikamente kamen nicht mehr durch und der Blutdruck fiel. Erneut mussten wir reanimieren – rund um ein viel zu grosses Bett stehend, und überall Drains im Weg. Eine kurze Herzmassage. Druckstösse waren unumgänglich. Und die Blutungen, die doch etwas nachgelassen hatten, waren nach diesem Angriff wieder in vollem Gang. Wir erreichten die Intensivstation mit einer mehr oder weniger stabilen Situation, wenn nur diese starke Blutung nicht gewesen wäre. «Von aussen» war noch immer keine Lösung in Sicht (keine Medikamente, Thrombozyten usw.). Wir verlagerten also unseren Operationssaal in die Intensivstation, um die Verbände zu wechseln und mit dem Tamponieren weiterzufahren. Mit gewölbtem Rücken, unter schwindendem Licht und mit einem versagenden Absauggerät erreichten wir endlich mit sehr grossem Aufwand die schon zuvor gehabte, immer noch unsichere Ruhe. Nach anderthalb Stunden Einstellen der Medikamente und der Blutwerte, Auflegen der Kompressen rund um die Nähte, konnten die Verbände über den offen gelassenen Wunde erneuert werden. Wir fanden noch eine Blutreserve (das Kind hat eine seltene Blutgruppe), von der wir hofften, dass sie für eine Kompensation des verlorenen Blutes reichen und helfen würde, die sehnlichst erwartete Blutgerinnung zu unterstützen.

Die Nachtwache übernahm das Team aus Kambodscha. Sie waren die ganze Zeit dabei und kennen sich in ihrem Beruf sehr gut aus. Wir gaben ihnen noch die letzten Instruktionen und sie wussten auch, dass sie uns jederzeit erreichen konnten.

Es war bereits nach 22 Uhr, als wir das Hotel erreichten. Dieselbe Gnade wie vor zwei Tagen war uns gegeben: eine warme Mahlzeit. Aber diesmal hatten wir weder die Kraft noch die Zeit für ein aufwändiges Abendessen. Es gab Cheeseburger mit Pommes Frites und Ketchup! Pech für unsere Herzkranzgefässe, die heute wohl sowieso schon ziemlich gelitten hatten. Um Mitternacht riefen wir die Kollegen von der Intensivstation an. Das Kind sei relativ stabil, die Blutungen durch die Drains schwach. Akzeptabel. Wir hofften, dass es die ganze Nacht so bleiben würde, denn wir mussten dringend unsere müden Knochen ausruhen. Ich fühlte bereits, wie sich die Nacken- und Rückenmuskulatur und die Waden versteiften. Gefasst auf eine Nacht mit Muskelkater, entschieden wir einstimmig, uns eine Stunde mehr Schlaf zu gönnen.