Blog prof. René Prêtre

Dez 08 2017

Mission Kambodscha 2017, 8. Dezember

Post by René Prêtre

Dez 08 2017

Freitag, 8. Dezember

8.30 Uhr

Beim Kaffee heute Morgen ist niemand sehr gesprächig, aber die Stimmung ist trotzdem weder angespannt noch gereizt. Es ist lediglich die angestaute Müdigkeit – auch wenn wir uns in der letzten Nacht etwas erholen konnten – und vielleicht eine Vorahnung, was die Kleine betrifft, die uns so viele Sorgen bereitete.

Manuel avec Sovanna « à la pompe ». Leur machine tourne à vide en attendant d’être connectée à l’enfant. Derrière lui, Ladin, un asssitant et l’instrumentiste. A gauche derrière l’écran plastique, l’espace de Yann.

Manuel und Sovanna «an der Pumpe». Bevor die Maschine an das Kind angeschlossen wird, dreht sie noch im Leeren. Hinter Manuel befinden sich Ladin, ein Assistent und der technische Operationsassistent. Links hinter der Kunststoff-Abschirmung ist Yanns Platz.

Die Befürchtungen haben sich bewahrheitet. Obwohl alles aussah, als würde es sich zum Besseren wenden, verschlechterte sich ihr Zustand gestern Nachmittag langsam, bis sich im Verlaufe der Nacht die Situation zuspitzte. Es wurde immer schwieriger, den Blutdruck stabil zu halten (immer mehr medikamentöse Unterstützung war vonnöten), während der Sauerstoffgehalt im Blut langsam zusammenfiel. Einige Stunden später reichten unsere Mittel nicht mehr aus, und sie ging von uns. Eigentlich ganz ruhig, zumindest ohne zu leiden und ohne Stress.

Kurz waren wir mit unseren Gedanken noch bei ihr, dann mussten wir die Routine wieder aufnehmen. Unsere Visite auf der Intensivstation war selbstverständlich etwas getrübt, aber schliesslich ziemlich rasch erledigt. Abgesehen von dem Mädchen, das wir gestern Morgen operierten hatten und dessen viel zu schneller Herzrhythmus mit agressivsten Mitteln gesenkt werden musste, ging es allen Kindern gut; die Meisten werden im Verlaufe des Vormittags die Station verlassen können.

Les mêmes, de face, vus par Patrick, dessinateur de presse.

Dieselben, diesmal aus der Sicht Patricks, des Pressezeichners.

Ich habe mich bereits im Materialraum installiert. Von hier aus kann ich, wenn ich über meinen Computer schiele, durch das Fenster direkt in den Operationssaal sehen, wo im Vordergrund unser Kardiotechniker Manuel mit seinen Kollegen vom Spital (bei Manuel mit seiner geselligen Art müsste man auf Anhieb «mit seinen Freunden» sagen) die Herz-Lungen-Maschine im Leeren laufen lassen, um sämtliche Luftbläschen zu beseitigen, die sich noch im Kreislauf befinden, und wo Yann im Hintergrund mit der Herzultraschall-Sonde beschäftigt ist.

Yann, super-intéressé par notre travail. Quand je me tourne vers lui, j’ai quand même l’impression de regarder un aquarium … (Lui vous dira sûrement qu’il a la même impression lorsqu’il nous regarde. Ah lala, où est le respect ?)

Yann, äusserst interessiert an unserer Arbeit. Als ich mich ihm zuwende, habe ich den Eindruck, er glotze in ein Aquarium … (Er würde bestimmt sagen, er habe den selben Eindruck bei unserem Anblick. Herrje – wo bleibt denn der Respekt?)

Das Kind schläft tief und Ladin hat bereits mit der Thorax-Desinfektion begonnen. Der Fall heute Morgen ist zwar ziemlich komplex (welch eine Überraschung!), er macht mir aber nicht übermässig Sorgen, denn sein Herz ist stark und wenn wir eine gute Korrektur vornehmen, werden wir keine Probleme damit haben, ihn wieder « der Pumpe zu entwöhnen».[1]

 

13 Uhr
Wie geplant, ist die zweite Operation ohne Probleme verlaufen. Nach der Entwöhnung von der «olympischen» Pumpe, musste das Herz erst einmal gebremst werden, so sehr hatte es sich schon daran gewöhnt, im Schnellgang zu arbeiten. Da in diesem Spital keine Cafeteria vorhanden ist, hat Sybille, wie jeden Mittag, Sandwiches für uns geholt. Hier sind es die Eltern, die jeweils das Essen für die Kinder mitbringen, folglich haben wir Sybille mit dieser Aufgabe betraut. Seit Montag sind die Sandwiches immer die selben, aber wir beklagen uns nicht, immerhin schmecken sie ganz gut.

Sibylle, notre cheffe de l’intendance.

Sybille, unsere Verwaltungschefin.

Die Kardiologen sind soeben mit einem Notfall zu mir gekommen: Ein Kind, das heute Morgen zu früh zur Welt gekommen ist und sofort Anzeichen einer Atemnot aufwies. Die Echokardiographie zeigte, dass die Pulmonararterie fehlte, welche die rechte Herzhälfte mit den Lungen verbinden sollte. Das Kind überlebte nur dank des Blutflusses durch den Ductus Botalli, der sich jedoch in der Regel in den ersten Tagen nach der Geburt schliesst. Bei uns in Europa verabreichen wir ein Medikament, das es uns ermöglicht, den Ductus Botalli offen zu halten, um dann eine Woche später in Ruhe die chirurgische Korrektur einzuplanen. Dieses Medikament gibt es hier aber nicht. Dies bedeutet wiederum, dass sich der Ductus Botalli, ohne besagte Blockierung durch Medikamente, jederzeit schliessen kann, was für das Kind zu einem Tod durch Ersticken führt.

Wir sind bereit, den Zorro zu spielen (ausserdem mögen wir angespannte Situationen, in denen es allein durch die Perfektion eines ganzen Teams gelingt, den Kampf zu gewinnen), aber als wir die Echokardiographie von Nahem betrachten, bemerken wird, dass das Kind noch an anderen Herzproblemen leidet, die zu schwer sind, um hier behandelt werden zu können. Es fällt uns schwer, aber wir verzichten auf eine Operation. Ein merkwürdiges Gefühl, Cicero zu spielen, indem wir mit erhobenem oder gesenktem Daumen über Leben und Tod der Kinder entscheiden. Bei uns hätten wir alle Hebel in Bewegung gesetzt, um gegen diese zuweilen irrationale Natur anzukämpfen. Hier gelten aber andere Regeln: Regeln, die die Effizienz hinsichtlich eines Ganzen umschreiben – und nicht hinsichtlich eines Individuums. Ungeschriebene Regeln, die besagen, dass die vorhandenen Ressourcen auf möglichst viele Kinder verteilt werden sollen. Dieses Kind haben wir nicht einmal selbst zu Gesicht bekommen. Wir haben einzig auf dem Computerbildschirm bemerkt, wie sein Herzchen bis zum Halse schlägt und anhand dieser Bilder entschieden, den Daumen nach unten zu drehen. Manchmal kann es einem in diesem Beruf ganz schön schwindlig

17.30 Uhr
Die Operation entpuppt sich als schwieriger als diejenige vom Nachmittag. Insbesondere, da die Blutgerinnung schlecht ist und das Kind eine lange Hämostasezeit benötigt[2]. Ansonsten war sein Herz kräftig und der innere Blutfluss war harmonisch, ohne Turbulenzen und ohne Energieverlust.

Cynthia (médaillon) aidant David à intuber un enfant. En face d’eux, Aurélie.
6

Cynthia (Medaillon) hilft David beim Intubieren. Im Vordergrund: Aurélie.

Wir spüren bereits das Ende der Mission nahen. Die Intensivstation ist voll, und morgen müssen Ladin und einige seiner Kollegen eine Facharztprüfung ablegen und werden nicht da sein. Wir werden es bestimmt nicht schaffen, ein Team für den Block zusammenzustellen.

Wir verabreden uns für 20 Uhr, um gemeinsam in der Stadt in einem der uns bereits bestens bekannten Restaurants essen zu gehen. Mit der leichten Entspannung, die jetzt langsam spürbar wird, wird die Stimmung bestimmt angenehm.

23.45 Uhr
Wir sind von unserem Abendessen zurückgekehrt. Wie bereits auf dem Hinweg, haben wir uns auf dem Rückweg mit dem Tuk-Tuk erneut verfahren (trotz der den Fahrern diskret vorgeschossenen Trinkgeldern – im Plural, wohlgemerkt – musste der Fahrer noch tanken gehen; die Götter standen heute Abend wohl nicht auf unserer Seite).

Yann (no 2) et Aurélie, masqués.

Yann (Nr. 2) und Aurélie mit aufgesetzter Maske.

Wir gönnen uns noch ein letztes Glas auf der Hotelterrasse. David und Yann bitten uns, ihr Glas noch einmal aufzufüllen, während sie auf einen Sprung auf der Intensivstation vorbeischauen. Während wir uns vergnügt über grosse philosophische Problemstellungen, wie die Rolle eines fünften Schiedsrichters in einem Sechzehntelfinal des Schweizer Fussball-Cups, unterhalten, spielen plötzlich alle unsere Handys gleichzeitig verrückt.

  • «Wir reanimieren!!»
  • «Wie, ‹wir reanimieren!›? Ist das ein Scherz? Und wen überhaupt?»

Es bleibt keine Zeit, die Nachricht zu beantworten, schon klingelt mein Telefon. Es ist David.

  • «Wir reanimieren die Aortaklappe.»

Ich hätte auf jedes Kind wetten können, aber nicht auf dieses. Diese Operation war die einfachste und zügigste der ganzen Mission. David fährt weiter:

  • «Er übergab sich, gerade als wir hereinkamen, dann ist der Blutdruck zusammengefallen. Wir haben ihn ein paar Sekunden massiert, bis das Adrenalin verabreicht war. Der Blutdruck hat sich erholt, aber er ist immer noch schwach. Yann ist gerade dabei, das Herzultraschallgerät zu holen, um zu schauen, was passiert ist.
  • «Okay, hör zu, wir kommen.»

David am Kopfende eines frisch extubierten Kindes.

Praktisch das ganze Team folgt mir. Bis wir da sind, ist das Kind wieder bei Sinnen, obwohl noch ziemlich groggy. Der Blutdruck ist schwach und die Werte liegen sehr nahe beieinander. Yann führt eine Sonde durch den Thorax und bemerkt einen Perikarderguss, der Druck auf einen der Vorhöfe ausübt.

  • Dies ist das Problem, es ist bestimmt das Blut, das bei diesem Kind nicht gerinnt. Wir müssen eine Drainage legen.

Es ist nicht leicht hier, mitten in der Nacht, in einen Operationssaal zu gelangen. Die Türen sind verschlossen und wir müssen auf einen anderen Eingang ausweichen und die Türen von innen her öffnen.

3 Uhr

Die Situation ist wieder unter Kontrolle. Kaum lag das Kind auf dem Operationstisch, versagte sein Blutdruck erneut. Wir mussten den Einschnitt schnellstmöglich wieder öffnen, um den Erguss zu entlasten, der sein Herz zusammendrückte und es daran hinderte, sich zu füllen und das Blut in die Aorta zu pumpen.

Yann et David. Cette fois, je dois avouer (presqu’à mon corps défendant) qu’ils méritent le tritre de « men of the month » - pas moins !

Yann und David. Diesmal, ich muss es zugeben (auch wenn es mir nicht leicht fällt), verdienen sie den Titel «Men of the month» – nicht weniger als das!

Panik: Wir finden keine Handschuhe für mich!

Die Kambodschaner haben kleinere Hände als wir Europäer und unsere «europäischen Handschuhe» werden andernorts gelagert. Der Blutdruck des Kindes kommt gefährlich ins Schleudern und schafft es trotz der Adrenalin-Peitschenhiebe, die Yann ihm verabreicht, kaum auf akzeptable Werte. Plötzlich höre ich Davids schonungsloses:

  • «Er reagiert nicht mehr auf das Adrenalin.»

Wie in schlechten Serien taucht neben meinen nackten Händen, in denen ich ein Skalpell halte, plötzlich ein Paar Handschuhe auf. Schnell streife ich die Handschuhe über und stürze mich auf den Thorax, um die Nähte zu öffnen. Ladin hat bereits begonnen. Kaum weicht der Druck, spritzt die mit Blut vermischte Flüssigkeit wie ein Geysir in die Höhe. Unmittelbar steigt auch der Blutdruck – durch das vorher verabreichte und angesammelte Adrenalin sogar auf extrem hohe Werte. Es braucht einige Minuten, bis alle Parameter sich wieder beruhigen und normalisieren.

Danach beginnt eine lange Hämostase-Arbeit. D. h. Stillung dieser diffusen Blutung infolge fehlender natürlicher Blutgerinnung. Tamponieren, eine kurze Kauterisation, erneutes Tamponieren, erneute kurze Kauterisation. Nach über einer Stunde akribischer Arbeit ist das Operationsfeld endlich wieder trocken und wir können den Einschnitt schliessen.

Les restes de la soirée, imperturbables …

Der Rest des Abends: Unerschütterlich …

Wir bringen das Kind wieder auf die Intensivstation und übergeben es dem Team, das Nachtwache hält, bevor wir ins Hotel zurückkehren. Die «Hintertüren», die sich gleich beim Kardiologie-Flügel befinden, sind verschlossen. Also kehren wir wieder um: Ein riesiger Umweg durch das Hauptgebäude und schliesslich zum Haupteingang des Hotels.

Als wir durch die Pforte gehen, wende ich mich an Yann:

  • «Ich frage mich, ob mein Glas wohl noch dasteht, denn ich habe gerade mal daran genippt.»

Wir schauen uns an, zwinkern uns zu und machen einen kleinen Abstecher auf die Terrasse: Da steht es – unerschütterlich. Aber ich habe diesen Kupfergeschmack im Mund – vielleicht aufgrund der Anspannung – was mir so ziemlich die Lust verdirbt. Mit diesem Geschmack würde mich mein Drink ziemlich anekeln.

Wir trennen uns und verabreden uns auf eine Stunde später wieder beim Frühstück. Ich erinnere mich, wie ich in meinem Zimmer auf mein Bett gefallen bin, aber ich habe keine Ahnung, wie ich überhaupt dorthin gekommen bin.

__________________________
[1] Der Pumpe entwöhnen bedeutet, die Herz-Lungen-Maschine auszuschalten. Dies ist einer der kritischsten Momente bei einer Herzoperation, denn alles hängt in diesem Augenblick davon ab, wie gut der Herzmuskel während der Asphyxie-Phase (also während der Zeitspanne, in der das Herz angehalten wurde) geschützt war und davon, wie gut die Korrektur der Fehlbildung vorgenommen wurde.

[2]Die Hämostase ist ein Prozess der Blutstillung. Sie wird mittels Ligatur, Kauterisation und einfacher Tamponade herbeigeführt. Die Korrektur einer Blutgerinnungsstörung (wie beispielsweise diejenige einer Blutplättchen-Transfusion) ist genauso wichtig, um die Kontrolle zu erlangen.