Blog prof. René Prêtre

Mai 16 2018

MISSION MOSAMBIK 2018, 16. MAI

Post by René Prêtre

Mai 16 2018

9 Uhr
Jawohl: 9 Uhr. Wir haben uns nämlich darauf geeinigt, eine Stunde länger zu schlafen. Auch unser Programm haben wir so abgeändert, dass wir heute zwei mittelschwere Operationen durchführen. So überlasten wir unseren Organismus nicht und halten die Bewegungen auf der Intensivstation aufrecht, damit immer ein paar Betten für die restliche Mission frei bleiben.

Bei jeder Mission gibt es ein Kind, das sich von den anderen abhebt. Eines, das uns in lebendiger Erinnerung bleibt. Eigentlich ist es immer eines der Kinder, das uns besonders grosse Sorgen bereitet hat oder bei dem Komplikationen aufgetreten sind. Diese Fälle hinterlassen deutlichere Spuren, weil sie uns emotional berühren oder weil sie längere Pflege benötigen. Mirley scheint das Kind zu sein, das für die «Maputo 2018»-Mission steht.

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Kurze Visite auf der Intensivstation. Die Hälfte der operierten Kinder sind bereits erwacht, die andere schläft noch – wie Cleriana.

Sie ist acht Monate alt und wiegt 4,9 Kilogramm. Vor zwei Monaten wurde sie von Sozinho wegen eines Ventrikelseptumdefekts (einem Loch im Herz) operiert. Komplizierte postoperative Folgen traten auf – insbesondere wiederholte Infektionen und verzögertes Wachstum. Die Untersuchungen zeigten, dass ein beträchtliches Loch immer noch vorhanden war, als ob Sozinhos Patch gerissen wäre. Er fürchtete sich davor, die Reoperation selbst durchzuführen und hatte schon ungeduldig auf unsere Ankunft gewartet. Ich dachte nicht, dass ich grosse Schwierigkeiten haben würde, diesen Fall in Ordnung zu bringen, also habe ich die Operation an die zweite Stelle, zu den etwas leichteren Fällen, geschoben. Ich begriff jedoch bereits beim Öffnen des Sternums, dass die Situation um einiges ernster war: eine ungewöhnliche Herzdrehung und massiv erweiterte Herzkammern infolge des chronischen Shunts, einer Verbindung zwischen den Herzhöhlen. Die Vorhöfe, wo wir unsere Kanülen legen, um das Blut abzusaugen, waren von den dilatierten Herzkammern vollkommen erdrückt und nicht mehr sichtbar. Insofern war es schwierig, die Herz-Lungen-Maschine anzuschliessen und den Herzstillstand zu induzieren. Auf Grund dieser ungünstigen Anatomie entschied ich, einen anderen Weg einzuschlagen, um das Loch zu schliessen. Überraschung! Beim Öffnen der rechten Herzkammer finde ich kein Loch. Ich untersuche Sozinhos Patch … es hält gut an den Rändern des alten Lochs. Es ist nicht zerrissen. Uns stehen hier nicht dieselben Mittel zur Diagnostik zur Verfügung wie bei uns zuhause, und bei allen unseren Operationen – unseren Flügen – verlassen wir uns ganz auf das, was wir mit unseren eigenen Augen sehen können, es gibt weder Lotsen noch Hilfs-Instrumente.
Nach der Untersuchung der rechten Herzkammer mit seinen unzähligen Trabekeln (Muskelbälkchen) muss ich eingestehen, dass ich kein weiteres Loch zwischen den beiden Herzkammern ausfindig machen kann. Ich schliesse den Einschnitt und lasse das Herz wieder leicht arbeiten, damit der Shunt sich zeigen kann. Yann und ich versuchen mittels improvisiertem Herzultraschall, das zusätzliche Loch zu lokalisieren. Die gebastelte Sonde zeigt uns lediglich eine Schneewolke, hinter der wir nur mit Mühe gewisse Herzstrukturen erahnen können. Es wird immer klarer, dass da ein beträchtliches Loch sein muss, aber wir können die Stelle nicht ausfindig machen. Diesmal scheint uns, als ob das Blut in den rechten Vorhof strömt. Also erneut einen Herzstillstand herbeiführen, erneut einen Eingriff vornehmen – diesmal über den rechten Vorhof. Auch hier: Enttäuschung – kein Loch weit und breit. Abermals erfolglos schliesse ich das Herz und lasse es wieder schlagen. Es ist schon spät. Schon nach 20 Uhr. Angesichts der Unmöglichkeit, in diesem Nebel weiter voranzukommen, entscheiden wir uns, die Korrektur abzubrechen und hoffen, dass die alte Situation wieder eintritt – keine schöne Lösung, aber zufriedenstellend, um gerade über die Runden zu kommen. Vielleicht können wir die Zeit dazu nutzen, die Untersuchungen zu intensivieren, um das Loch doch noch zu finden. Müde und abgespannt müssen wir zehn Minuten nach dem Anhalten der Maschine feststellen, dass das Herz Schwierigkeiten hat: der Blutdruck fällt zunehmend. Und es wird klar: Dieses Kind wird unseren Eingriff nicht überleben. Angesichts dieser Verschlechterung wird es nicht lange durchhalten. Es ist nicht mal sicher, ob es den Weg zur Intensivstation schaffen wird. Im Hinblick auf den vorprogrammierten Tod entscheiden wir uns, die Kanülen wieder zu positionieren (immer noch mit denselben Schwierigkeiten) und die Herz-Lungen-Maschine wieder einzuschalten, auch wenn diese nur dazu dienen sollte, Kreislauf und Blutdruck zufriedenstellend aufrechtzuerhalten – und vor allen Dingen, unseren letzten Überlegungen bezüglich möglichen Lösungen etwas mehr Zeit zu verschaffen.

Wir nehmen noch einmal unsere handgemachte Ultraschallsonde und setzen sie, in steriles Plastik verpackt, direkt auf das Herz, in der Hoffnung, so die Anatomie und den Ventrikelseptumdefekt besser verstehen zu können. Nachdem wir zehn Minuten abgetastet haben, kann ich an einer absolut untypischen Stelle im Innern der rechten Herzkammer einen unüblichen Strahl ausmachen. Dieser Strahl ist unsere letzte Chance. Dieser Strahl ist ihre letzte Chance. Möge das Loch sich wirklich an dieser Stelle befinden und sich schliessen lassen, denn es ist riesengross und verhindert eine effiziente Blutzirkulation. Wieder halten wir das Herz an und trennen den ersten, breiter gewordenen Einschnitt wieder auf. Und wieder der Trabekelwald. Ich wähle diejenigen aus, die mir auf dem Ultraschall angezeigt worden sind und untersuche jede einzelne mit einer Pinzette. Plötzlich geht meine Pinzette tiefer. Ich spüre, wie sie das Septum, die Gewebewand, durchdringt und auf der linken Herzseite unter der Herzklappe wieder hervortritt. Jetzt haben wir das Loch. Ich schneide einige Trabekeln heraus und schon zeigt es sich. Es ist so gross wie befürchtet und an einer komplett unüblichen Stelle (und ich habe über tausend solcher Ventrikelseptumdefekte geschlossen). Endlich kann es geschlossen werden. Dann kann der Einschnitt zugenäht und das Herz wieder zurückgeholt werden. Wir geben ihm zehn Minuten um sich zu erholen und versuchen dann erneut, die Herz-Lungen-Maschine abzuschalten. In diesem Moment machen wir uns keine grossen Hoffnungen: In diesem Alter, nach drei Läufen extrakorporaler Zirkulation und drei Herzstillständen sind die Erfolgschancen minim. Insbesondere bei einem so kleinen und so schwachen Kind … und vor allem hier …

Der Blutdruck ist zwar nicht luxuriös, aber dennoch ausreichend. Diesmal können wir also die Kanülen der Herz-Lungen-Maschine entfernen und die ganze Kreislaufarbeit wieder dem Herz überlassen. Die Situation ist prekär, aber stabil. Wir sind uns im Klaren darüber, dass jede noch so kleine Störung dieses schwache Gleichgewicht zusammenstürzen lassen könnte. Wir trauen uns kaum, das derart geschwächte Herz zu berühren. Die erste Herausforderung – den Blutkreislauf aufrechtzuerhalten – scheint gemeistert. Jetzt bleibt noch die zweite, nicht weniger risikoreiche: die mühevolle Arbeit der Blutstillung (Hämostase). Ein neuer Marathon beginnt … Das Blut hat nach all diesen Durchläufen durch die Plastikschläuche der Herz-Lungen-Maschine die ganze Blutgerinnungsfunktion verloren. Erschwerend kommt hinzu, dass wir hier in Maputo nicht so viele Blutgerinnungsmittel zur Verfügung haben. Wir haben keine Thrombozyten, kein Fibrinogen und keine Gerinnungsfaktoren. Das einzige uns zur Verfügung stehende Mittel ist die Tamponade. Dennoch, nach einer Stunde Tamponaden (merke: das Wörtchen steht in der Mehrzahl!) müssen wir feststellen, dass die Blutung nicht aufhört. Die zweitgrösste Gefahr aus dem Hinterhalt in der Herzchirurgie sind die Blutungen – sie töten regelmässig, auch ohne explosiv zu sein, wie hier, mit einem leisen Sickern. Die einzige Möglichkeit, das traurige Schicksal dieses Kindes aufzuhalten, wäre, ihm frisches Blut zuzuführen. Blut, das alle Gerinnungsfaktoren enthält. Blut, das direkt vom Spender zum Patient transfusiert wird, ohne vorgängige Tests und ohne Konservierung.
Bei uns ist diese Methode nicht mehr zulässig – Sicherheitsvorschrift. Hier aber ist es nicht geregelt – und somit auch nicht verboten. Wir haben keine andere Wahl: Wir müssen die Risiken von übertragbaren Krankheiten, die diese Praxis mit sich bringt, ausser Acht lassen. Also verschaffen wir uns einen internen Überblick. Eine Pflegerin der Intensivstation hat die gleiche Blutgruppe wie die Kleine. Sie ist es also, die der kleinen Patientin ihr Blut geben wird. Sie ist es, die ihr eine letzte Chance gibt. Sofort lässt sie sich das Blut entnehmen. Nach einer halben Stunde kann der Beutel mit dem rettenden Blut in den Operationssaal gebracht werden und an eine Transfusionslinie angeschlossen werden. Und tatsächlich: Das lang erwartete Wunder tritt ein, das Blut fängt zu gerinnen an, das Operationsfeld trocknet langsam. Hoffnung steigt wieder auf in unseren Herzen und Seelen. Wir wagen fast nicht, es zu glauben. Auch die Strömungsdynamik des Blutes beginnt sich zu bessern. Das Herz scheint in besserer Kondition zu sein und effizienter zu arbeiten als gerade eben. Noch lassen wir uns aber zu keiner Euphorie verleiten. Wir sind uns dessen bewusst, dass unsere Arbeit immer noch eine Art Aufschub ist, aber noch nie schien uns die Lebensweisheit «wo Leben ist, da ist auch Hoffnung» so wahr wie jetzt.
Noch eine Stunde vergeht, bis die Medikamente eingestellt sind und wir die Kleine, zwar in kritischem aber nicht mehr in hoffnungslosem Zustand, auf die Intensivpflege verlegen können.
Es ist halb eins.

18 Uhr
Wir haben das Tagesprogramm auf eine Herzoperation am Vormittag und Mirleys Herzrevision am Nachmittag reduziert. Tatsächlich war die Situation dermassen kritisch gestern Abend, dass wir es vorgezogen haben, ihr Sternum offen zu lassen. Nach solch langen Operationen ist das Gewebe oft aufgeschwollen (auch der Herzmuskel und die Lungen) und beansprucht daher mehr Platz. Die Brust zu schliessen und damit das empfindliche Herz zusammenzudrücken, hätte das instabile Gleichgewicht, das wir mühevoll mit Geduld und Medikamenten hergestellt hatten, leicht zerstören können.

Die Operation am Vormittag verlief ohne Schwierigkeiten. Und bei der Revision von Mirley hat sich ihr Herz viel stärker und stabiler gezeigt als gestern Abend. Eine erfreuliche Nachricht. Wir konnten das Sternum schliessen, ohne dass sich der Blutdruck änderte, ohne den kleinsten Ruck.
Heute Abend trödeln wir ein wenig hier am Instituto, damit wir alle im Auge behalten können – insbesondere die Kleine von gestern. Wir essen auch hier zu Abend, bevor wir noch einen letzten Kontrollgang machen und dann auf unsere Zimmer zurückkehren.

Evelyne, immer sehr hilfsbereit, bringt das erste Kind in den Operationssaal. Mit ihr sparen wir bei der Prämedikation.

Evelyne, immer sehr hilfsbereit, bringt das erste Kind in den Operationssaal. Mit ihr sparen wir bei der Prämedikation.