Blog prof. René Prêtre

Mai 24 2017

Mission Mosambik 2017, 24. Mai

Post by René Prêtre

Mai 24 2017

Vormittag

Gestern Abend haben wir noch etwas im Spital gegessen, bevor wir nach Hause gegangen sind. Es war schon dunkle Nacht, als wir unsere zweite Operation beendet haben. Der Esssaal ist zwar etwas nüchtern, aber wir waren hungrig und konnten es kaum erwarten, uns auszuruhen. Die Müdigkeit wurde immer hartnäckiger. Es wurde also nicht viel gesprochen, aber die Atmosphäre war dennoch angenehm.

Gegen 21 Uhr verliessen wir das Spital, nur Yann und Guillaume sind noch für eine letzte Kontrolle auf die Intensivstation zurückgekehrt.

Heute Morgen haben wir uns wie gewohnt um 7:45 Uhr getroffen, um gemeinsam zum Spital zurückzukehren. Yann meinte:

«Gestern Abend hätte ich dich beinahe angerufen. Das Kind mit der Transposition – also der Kämpfer – wurde instabil und ich dachte, wir müssten erneut sein Sternum öffnen, um uns zu vergewissern, dass kein Hämatom auf das Herz drückt. Nach zweistündigem Herantasten mit Medikamenten und Infusionen konnte ich ihn dann doch stabilisieren und dich somit in Ruhe lassen.»
«Himmel! Und wann bist du nach Hause gekommen?»
«Nach Mitternacht.»

Genau hier liegt die Stärke unserer Missionen: Die Personen, die mich begleiten, scheuen sich nie vor der Arbeit. Sie sind alles engagierte Menschen, die sich niemals entmutigen lassen und wenn nötig jederzeit bereit sind noch einen draufzulegen.

Den Weg zurück zum Spital gehen wir zu Fuss, wofür wir 20 Minuten brauchen. Der Himmel ist klar, die Sonne noch tief und die Luft angenehm. Als wir ankommen, gehen wir erst einmal zur Morgenvisite auf die Intensivstation. Ausser dem noch schlafenden Krieger geht es allen Kindern gut.

Die Intensivstation. Das Kind atmet noch immer mithilfe einer Maschine.

Die Intensivstation. Das Kind atmet noch immer mithilfe einer Maschine.

Wir sehen uns den ersten Fall für heute an und werden dabei eher unangenehm überrascht: Das einmonatige Mädchen wiegt nicht wie auf den offiziellen Papieren angegeben 3,5 kg, sondern nur 2,5 kg. Ein riesiger Unterschied – für das Kind wie für uns – umso mehr, als dass es sich bei dieser Operation wieder um eine ohnehin heikle arterielle Switch-Operation handelt.

Es stimmt, wir haben das Kind an unserem ersten Tag gesehen, als wir uns noch eingearbeitet haben, aber ich habe nicht auf sein Gewicht geachtet. Ich konzentriere mich in erster Linie auf die Echokardiographie und nicht auf die Kinder selbst (obwohl ich auch immer einen Blick auf sie werfe). Der Unterschied von 2,5 zu 3,5 kg ist frappant, insbesondere hier in Mozambique, wo uns nicht alle Ressourcen zur Verfügung stehen und wir nicht auf dasselbe Fachwissen zurückgreifen können. Das Blutvolumen eines Kindes wird auf 80 ml pro Kilo geschätzt. Somit hat unser Kind ungefähr 200 ml Blut, das in seinem Körperchen zirkuliert. Um unsere Herz-Lungen-Maschine zu starten, braucht diese etwa 300 ml Flüssigkeit – Flüssigkeit, die sich mit dem Blut des Kindes vermischen wird. Eine solch massive Verdünnung des Nativblutes zieht Konsequenzen nach sich. Die Folge ist ein generalisiertes Oedem (Ansammlung von Flüssigkeit überall im Körper), das umso grösser wird, je länger die Maschine läuft. Dazu kommt, dass so eine Korrektur mehr als vier Stunden dauert, denn die Aorta muss geweitet werden, um das Loch zwischen den beiden Herzkammern zu schliessen. Dieses Kind würde aussehen wie ein Luftballon, wenn es aus dem Operationssaal kommt! Auch wenn das Wasser am Ende über die Nieren wieder ausgeschieden wird, werden die Organe doch enorm belastet und deren Funktion eingeschränkt, was eine verstärkte Überwachung verlangt sowie fachgerechte Reflexe und spezielle Mittel nötig macht, die wir hier nicht haben.

Angesichts dieser Pattsituation entscheiden wir uns für eine Palliativoperation, d. h. eine Operation, die die Blutzirkulation verbessert (ohne dass das Herz korrigiert wird), damit das Kind wachsen kann. In den 60er- und 70er-Jahren war dies der klassische Ansatz, da die Herz-Lungen-Maschinen im Vergleich zu den Patienten viel zu gross waren. Die Zirkulation wird so wieder hergestellt und den Kindern damit bis zur finalen Korrektur, kurz vor dem Schuleintritt, eine gute Entwicklung ermöglicht. Für diesen Ansatz entscheiden wir uns also heute – und verschieben damit die komplette Korrektur auf spätestens nächstes Jahr.

14 Uhr

Die Operation unseres «Fliegengewichts» ist gut verlaufen. Der kleine Krieger aber macht uns mehr Sorgen. Sein Fortschritt stagniert. Ich bespreche mich mit Yann und Guillaume. Wir einigen uns auf eine Revisionsoperation. Ist da ein Blutgerinnsel, das bei der Echokardiographie unentdeckt geblieben ist?

Bis die Revision organisiert ist, gehe ich in die Küche um etwas Kleines zu essen. Kaum habe ich meinen Teller gefüllt, platzt Hélène herein um mir zu sagen, dass sie mich sofort benötigen: Dem Kind gehe es immer schlechter und es würde gleich sterben.

Postoperative Pflege. Das Kind ist noch immer intubiert und an die Beatmungsmaschine angeschlossen. Wichtig ist, dass deine Position regelmässig geändert wird; hier schläft es auf dem Bauch.

Postoperative Pflege. Das Kind ist noch immer intubiert und an die Beatmungsmaschine angeschlossen. Wichtig ist, dass deine Position regelmässig geändert wird; hier schläft es auf dem Bauch.

Ich renne zu seinem Bett und stelle fest, dass sich sein Blutdruck auf dem Tiefpunkt (zwischen 35 und 40 mm Hg) und somit kurz vor dem Kollaps befindet. Glücklicherweise ist Carole, die OP-Pflegefachfrau, bereits mit dem Revisionsmaterial da. Schnell desinfizieren wir den Thorax, decken ihn mit einem sterilen Tuch ab und lassen die Fäden durch die verschiedenen Körperschichten wieder «aufspringen». Das Herz leidet sichtlich und wird an einer Stelle von einem Thymushämatom zusammengedrückt. Wir entfernen das Hämatom und waschen den Herzbeutel mit einer lauwarmen physiologischen Lösung. Langsam nimmt das Herz wieder eine gesundere Farbe an und zeigt stärkere Pumpbewegungen. Der arterielle Druck steigt ebenfalls – nicht so sehr, wie wir es uns wünschten, aber auf jeden Fall mehr als zuvor. Aufgrund der prekären Lage entscheiden wir, das Sternum eine Zeit geöffnet zu lassen, damit das Herz den nötigen Platz hat, um gut funktionieren zu können. Wir schliessen die Wunde mit einem sterilen Pflaster.

Zurück in der Küche. Das Essen ist inzwischen kalt geworden, aber ich esse es trotzdem auf. Kurz darauf erscheint Evelyne und weist mich darauf hin, dass das nächste Kind gleich bereit sei. Auch dieses Mädchen ist noch klein – gerade mal 2,8 kg wiegt es. Aber die Korrektur ist hier viel einfacher als eine arterielle Switch-Operation, sehr viel einfacher! Und das Risiko scheint uns angemessen. Bevor ich mich zurück in den Stollen begebe, hole ich mir aber noch einen Kaffee.

Später Nachmittag

 Die Dämmerung ist bereits hereingebrochen. Mir wird mitgeteilt, dass Beatriz mich sucht. In diesem Moment kommt sie angelaufen und sagt:
«Ich komme gerade von einem Kind, das ich euch gerne zeigen möchte.»

Beatriz erinnert mich oft an eine Zauberin, die jederzeit so ziemlich irgendetwas aus ihrem Zylinder ziehen kann: ein Kaninchen, eine Taube, einen Hamster …
«Es leidet am ALCAPA-Syndrom[1]. Sozinho hat diese Fehlbildung nie korrigiert, sie ist noch zu komplex für ihn. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.»

Sie begibt sich zum Untersuchungsraum, der sich im an den Operationskomplex angrenzenden Gebäude befindet. Da ich immer noch meine OP-Kleidung trage, schaue ich sie verstohlen an. Sie zwinkert mir zu und weist mich mit einer Kopfbewegung an, ihr zu folgen – und damit indirekt auch, gegen die gebräuchlichen Hygieneregeln zu verstossen. Ich bin mir des kleinen Vergehens bewusst und ich werde mich auf jeden Fall umziehen, wenn ich zurück bin.

Beatriz Ferreira, Herzspezialistin des Zentrums ICOR

Beatriz Ferreira, Herzspezialistin des Zentrums ICOR

Das Kind und seine Mutter warten im Flur. Die Kleine ist dreizehn Monate alt und ein aufgewecktes Mädchen. Sie ist überhaupt nicht beeindruckt von den zwei Erwachsenen in ihrer komischen Kleidung, die sie mit ernsten Mienen und schnellen Bewegungen aufnehmen und auf den Untersuchungstisch legen. Ihr Blick ist neugierig und tastet mit beeindruckender Geschwindigkeit einen Punkt nach dem anderen im Zimmer ab. Ihre Mutter zieht ihr den Pullover aus und die Wölbung im Bereich des Herzens springt mir sofort ins Auge. Könnte das Herz wirklich bereits dilatiert (erweitert) sein?

In der Umgangssprache wird Freigiebigkeit immer mit der Grösse des Herzens in Verbindung gebracht. «Ein grosses Herz zu haben» bedeutet grosszügig zu sein und wird als positive und beneidenswerte Eigenschaft gewertet. Für uns Fachärzte aber gilt ein grosses Herz – ausser bei den seltenen Fällen von Profiradrennfahrern – als ein schlechtes Omen. Die kardialen Fasern sind überdehnt und entwickeln nur mehr wenig Kraft (wie jeder gedehnte Muskel). Dazu kommt, dass sich der Dilatationsprozess verselbstständigt und soweit fortschreitet, bis die immer mehr geschwächte Herzkammer die Blutzirkulation nicht mehr aufrechterhalten kann.

Beatriz lässt ihre Ultraschallsonde über den Thorax des Kindes gleiten. «Goddammed! Ihr Herz ist wirklich dilatiert.» Sehr schnell bewahrheiten sich meine Befürchtungen: Die Kontraktionen der Herzkammer sind bedenklich schwach. An der Stelle, die allein von der aberranten Arterie durchblutet ist, sind sie fast gänzlich versiegt: Hier ist der Herzmuskel nur mehr eine faserige Narbe ohne Funktion. Noch beunruhigender ist, dass die Einlassklappe dieser Herzkammer (die Mitralklappe) nicht mehr richtig schliesst, was wiederum auf die massive Dilatation der Herzkammer zurückzuführen ist. Die beiden Blätter sind dermassen gedehnt, dass sie in der Mitte der Klappe nicht mehr zusammenkommen. Drei sehr schlechte Nachrichten, die uns in nur wenigen Minuten um die Ohren fliegen.

Immer noch voller Neugier schaut uns das Kind an. Auch die Mutter schaut uns an, aber in ihren Augen spiegelt sich ihre Angst.

mama_baby

Hier im Untersuchungsraum kann ich keinen Kommentar abgeben, aber Beatriz versteht, dass mein Schweigen nichts Gutes bedeutet. Ich schaue die zwei noch einmal an, insbesondere das kleine Mädchen. Es scheint so lebhaft …

Es ist schwer vorstellbar, dass ein Mädchen, das so eine Energie versprüht und so gesund aussieht, solch ein krankes Herz in sich trägt. Und dennoch sprechen die Fakten für sich. Dieses paradoxe Bild zwischen Hülle und Innerem bringt mich zurück in die Zeit vor unseren Herztransplantationen, als ich auf der Notfallstation gearbeitet hatte und junge Frauen oder junge Männer mit der Diagnose Hirntod eingeliefert wurden, deren Herzen fröhlich schlugen und noch so viele Jahre mit lebendiger Kraft hätten weiterschlagen können.

Beatriz erwartet mich in ihrem Büro gleich nebenan. Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen.

«Beatriz, wir können hier gar nichts tun! Das Risiko ist einfach zu gross. Es ist zu spät. Der Muskel ist bereits zur Hälfte abgestorben. Wir werden das Kind auf dem Operationstisch verlieren, dessen refraktäres Herz unmöglich noch irgendwie zu Kräften kommen kann. Bei uns könnten wir die Zirkulation mit Hilfe einer Maschine während einigen Wochen aufrechterhalten, das wäre genau, was es bräuchte, um diese Kraft wieder zu erlangen, aber hier, ohne dieses Sicherheitsnetz, ist es verlorene Mühe.»

Sie hört mir zu und kann mir, wenn auch widerwillig, nur beipflichten.

«Das Problem ist, dass ich dem Kind nichts bieten kann. Die Medikamente helfen ihm kaum, sie verhindern nicht einmal seinen Tod.»

«Ich weiss. Aber wir können ihn auch nicht verhindern. Ehrlich, es ist nicht, dass wir dem Kind nicht helfen wollen – uns fehlen einfach die Mittel.»

Wir sind schon häufig mit der Frage konfrontiert worden, ob wir operieren sollen, oder nicht. Ob mit einem aussergewöhnlichen Einsatz einem Kind mit einer stark belasteten Prognose eine letzte Chance gegeben werden kann, ist manchmal eine unüberwindbare Frage. Am Anfang unserer Missionen waren wir gnadenlos. D. h. wir haben den vorgegebenen Operationsrahmen niemals verlassen. Es wurden nur Kinder ausgewählt, bei denen die Prognosen gut standen und nur eine einmalige Operation nötig war. Und dies war richtig so. Es war einfach nicht angemessen, Kinder zu derart hohen Risiken oder mit einer bloss zufälligen Überlebenschance zu operieren, und dabei anderen mit besseren Prognosen, die Möglichkeit auf eine Zukunft zu nehmen. Aber jede Wahrheit ist relativ und hängt sowohl vom Ort ab, wo man sich gerade befindet (in der Schweiz hätte jeder sofort operiert), als auch vom Moment, in dem man lebt.

Mit der Entwicklung der Betreuung vor Ort haben wir unsere chirurgischen Eingriffe auf kompliziertere Fälle und solche mit einer weniger sicheren Zukunft ausgeweitet. Unsere Kriegslogik, die stets war, unsere limitierten Zeit-, Geld- und Energieressourcen, auf Kosten der aufwändigen Fälle, auf möglichst viele Kinder zu verteilen, verwischt sich nun durch diese lokale Weiterentwicklung. Doch trotz der unbestreitbaren Fortschritte können wir solche Extremfälle nicht berücksichtigen. Insbesondere wenn so wenig Hoffnung besteht.

Ich schlage Beatriz vor, sie zum Gespräch mit der Mutter zu begleiten. Ich werde sowieso nicht mit ihr direkt sprechen können, da ich kein Portugiesisch kann. Beatriz weiss, wie müde ich bin und erspart mir diese Last. Ich verlasse ihr Büro und warte diskret am Ende des Flurs. Ich sehe sie und die Mutter mit dem Kind auf dem Arm. Die Blicke sind unverändert. Beatriz legt die Hand auf die Schulter der Mutter und führt sie in ihr Büro. Die Tür wird zugezogen.

Noch einmal überdenke ich meine Entscheidung.

Aber ich kann nichts Weiteres tun.

[1] ALCAPA: Abnormal Coronary Artery from the Pulmonary Artery. Im Normalfall sind die beiden Koronararterien mit dem Gefäss des Hochdrucksystems, der Aorta, verbunden und transportieren sauerstoffreiches Blut. Bei dieser Fehlbildung entspringt eine der Arterien aus der Pulmonalarterie, dem Gefäss des Niederdrucksystems, und transportiert somit venöses und sauerstoffarmes Blut. Rechtzeitig entdeckt, kann diese Fehlbildung mittels einer Reimplantation in die Aorta korrigiert werden – mit hervorragenden Prognosen. Wird es aber zu spät gesehen, nach einem ausgedehnten Infarkt der Herzkammer, verdüstern sich die Prognosen mehr und mehr und das Operationsrisiko steigt erheblich.

Morgenvisite

Morgenvisite

 

Morgenvisite und Gespräch mit der Mutter

Morgenvisite und Gespräch mit der Mutter

 

Viviane

Viviane

 

Yann, der Anästhesist, mit Evelyne, Pflegefachfrau Anästhesie, und Guillaume, Oberarzt, im Operationssaal

Yann, der Anästhesist, mit Evelyne, Pflegefachfrau Anästhesie, und Guillaume, Oberarzt, im Operationssaal

 

Clayton mit seiner Mama

Clayton mit seiner Mama

 

René Prêtre bereitet sich auf die Operation vor

René Prêtre bereitet sich auf die Operation vor

 

Dr. Beatriz Ferreira, Herzspezialistin des Zentrums ICOR

Dr. Beatriz Ferreira, Herzspezialistin des Zentrums ICOR

 

ICOR, Instituto do Coração in Maputo

ICOR, Instituto do Coração in Maputo