Blog prof. René Prêtre

Mai 23 2017

Mission Mosambik 2017, 23. Mai

Post by René Prêtre

Mai 23 2017

Morgen

Nach dem Aufwachen an diesem Morgen eine SMS: «Attentat in Manchester, 19 Tote».
Es trifft mich wie ein Schlag – ein weiterer Tag der Trauer, der Ratlosigkeit und der Empörung.

Bevor wir uns auf den Weg zum Instituto machen, trinke ich Kaffee mit meinem Team.
Natürlich ist das Attentat Gesprächsthema. Hélène zeigt uns ein schreckliches Video, das vor Ort mit einem Smartphone aufgenommen wurde. Bilder, wie wir sie allzu oft sehen, von Panik, von geborstenem Stein und Metall, von aufgewirbeltem Staub, von Rauch und vor allem von Menschen, die weinen, schreien und verwirrt in alle Richtungen davonrennen. Zu diesem Zeitpunkt wollen die Behörden noch keine Schuldigen nennen, aber der Charakter – und vor allem die Feigheit – dieses Akts lässt kaum Zweifel offen; es handelt sich wieder um einen Terroranschlag. Erste Bilanz: Neunzehn Todesopfer, fünfzig Verletzte – manche von ihnen in Lebensgefahr – die Zahl der Toten dürfte noch steigen.

Unsere zuvor beschwingte Stimmung ist bleischwer geworden. Und dann, unvermeidlich, voller Überdruss, die schmerzhafte Feststellung: «Wenn man bedenkt, wie viel Zeit und Energie wir – ein Team von 9 Profis – aufwenden um ein Leben zu retten, und dann wird auf einen Schlag, durch eine Handvoll Täter – oder gar einen einzelnen – und im Bruchteil einer Sekunde, das Leben von fast zwei Dutzend Menschen ausgelöscht.»

Der Gedanke ist niederschmetternd. Aber dennoch, im heutigen Tag ist kein Platz für Niedergeschlagenheit, für Zweifel. Denn heute Morgen erwartet uns eine der vier schwierigsten Operationen dieser Mission.

Eine jener Operationen, bei der wir «ohne Netz und doppelten Boden» arbeiten, weil uns nicht alle «westlichen» Mittel zur Verfügung stehen – sollte der Herzventrikel, der nur noch zur Hälfte funktioniert, nicht stark genug für den Blutkreislauf sein, haben wir keine Möglichkeit der Unterstützung. In unseren Breitengraden würde eine Herz-Lungen-Maschine den Kreislauf während mehrerer Tage bis zur Erholung aufrechterhalten, was die Überlebenschancen deutlich verbessert. Die anstehende Operation ist riskant, muss jedoch sein, denn das Herz dieses Kindes wird immer schwächer, der Sauerstoffgehalt im Blut nimmt stetig ab; die kleine Lebensflamme flackert beängstigend.

Yann und Evelyne haben das Kind auf den Operationstisch gebettet.

Ein kleines Mädchen von 6 Monaten, das 6,5 Kilo wiegt. Während sie die Anästhesie vornehmen, mache ich einen Rundgang durch die Intensivstation. Die beiden am Vortag operierten Kinder sind wach. Sie haben die Nacht gut überstanden – für uns bedeutet das, dass sie stabil sind, ohne Blutdruckschwankungen, mit normaler Herzschlagfrequenz und guter Sauerstoffsättigung des Blutes.  Ich frage Amanda, die Pflegefachfrau, die das kleinere der beiden Kinder überwacht:

«Hat es nicht geblutet?[1]»
Zunächst verneint sie, dann besinnt sie sich: «Ganz wenig, so gut wie nichts.»
Die beiden Pflegekräfte Graciosa und João hören uns zu, und da, ohne zu überlegen, sage ich scherzhaft:
«Mir ist es lieber, es hat eine Spur von Blut, nur Tote bluten nicht.»
Sofort denke ich wieder an Manchester. Ich senke den Kopf und sage mir:
«Mein Gott, die 20 Menschen dort drüben, bestimmt alle noch jung, sie alle haben zu viel Blut verloren. Sie werden nie wieder bluten.»

Dieser Tag, ich weiss es, wird aus Phasen voller Elan, den wir für unsere beiden Operationen brauchen, bestehen und aus Phasen der Traurigkeit und des Unverständnisses, die unsere Moral untergraben werden.

 

Cœur normal. Le sang veineux (bleu) est explusé dans les poumons, le sang artériel (rouge) dans l’organisme.

Normales Herz.
Das venöse Blut (blau) wird in die Lunge gepumpt, das arterielle Blut (rot) gelangt in den Körper.

14 Uhr

Wir haben gerade an einem Kind operiert – und dem Tod ein Schnippchen geschlagen!
Die Überlebenschance des kleinen Jungen mit der Transposition der grossen Arterien lag im ersten Monat nach seiner Geburt ohne Operation bei kaum 10 % (die erbarmungslosen Statistiken der Epidemiologen bestätigen das). Ausserdem erlebt gerade mal 1 % dieser Kinder ihren ersten Geburtstag. Und zwar nur den ersten.
Diese Kinder erliegen schliesslich alle der Asphyxie. Unser kleiner Krieger hatte fast keinen Sauerstoff mehr zur Verfügung, als wir ihn gesehen haben. Seine Lippen waren dunkelblau gefärbt, nachtblau, dass sie sich kaum mehr von seiner Haut abhoben. Auch im Ruhezustand atmete er mühsam.

Sein Leben hing an einem seidenen Faden. Ein Hustenanfall, eine Rhythmusstörung, hätten gereicht um sein Herz, das mit nur noch so wenig Sauerstoff versorgt wurde, zum Flimmern und damit zum Stillstand zu bringen. Als befände er sich im Wasser mit gerade noch einem kleinen Nasenloch über der Oberfläche, die kleinste Welle würde ihn ertrinken lassen.

Transposition der grossen Arterien.
Das venöse Blut gelangt in den Körperkreislauf und das arterielle Blut in den Lungenkreislauf.

Bei der Eröffnung des Perikards (Herzbeutel) war das Myokard (Herzmuskelgewebe) so dunkel gefärbt, dass überdeutlich wurde, wie instabil sein Zustand war. Ich habe nicht gewagt Hand anzulegen, aus Angst selbst eine Ruptur zu verursachen. Wir haben zunächst mit grösster Vorsicht eine Kanüle an die Aorta gelegt, dann noch eine direkt in die Herzkammer, um jede Störung zu vermeiden. Das Anschliessen der Herz-Lungen-Maschine war nun möglich. Von dem Moment an würde sie für die Sauerstoffversorgung im Blut sorgen. Wir konnten nun mit eigenen Augen mitansehen, wie sich die Farbe des Herzens und des gesamten Operationsfeldes veränderte und von Dunkelblau zu diesem für sauerstoffgesättigtes Gewebe typischen Rosa wechselte.
Als Blutzirkulation unter Kontrolle war, haben wir das Herz zur Seite geschoben, um weitere Kanülen in die Hohlvenen zu legen. Diese führen das Blut zum Herzen. So haben wir einen klassischen, parallel geschalteten Kreislauf bekommen – was uns das Anhalten des Herzens erlaubte.

Doch genau diese haben dieses Kind am Leben erhalten, indem sie den Übertritt von etwas sauerstoffhaltigem Blut in den Körperkreislauf erlaubt haben. Es ist deren natürliches Verschliessen, das bei diesen Kindern schliesslich zu einer tödlichen Asphyxie führt. Die Verbindungen waren so eng, dass ich überrascht war, dass noch genug Sauerstoff im Blut war, erstaunt, dass dieses Kind noch leben konnte. Dem Tod ein Schnippchen!

Die zweite Ungewissheit bei diesem Kind lag in der Tatsache, dass der Ventrikel, der unter geringem Blutdruck arbeitete mit einem Mal einem viel höheren Druck ausgesetzt sein würde. Normalerweise wird eine solche arterielle Switch-Operation in den ersten zwei Wochen nach der Geburt vorgenommen, wenn die Drucke in beiden Herzhälften gleich sind. Jetzt, vier Monate später, ist der Druck im Lungenkreislauf gegenüber dem Körperkreislauf um einen Viertel niedriger – wie es sich gehört. Der Ventrikel, der die Lungen versorgt hat an Muskulatur «verloren» und es ist nicht sicher, ob er kräftig genug sein wird, mit vierfachem Druck zu arbeiten. Diese Operation hätte vor dreieinhalb Monaten durchgeführt werden müssen, aber das Team vor Ort, hier in Maputo, hat dafür einfach noch nicht die notwendige Expertise.

Correction (appelée switch artériel). Les gros vaisseaux sont transposés sur l’autre ventricule. A noter le transfert des artères coronaires sur le vaisseau « oxygéné ». Ce geste représente la partie la plus délicate de l’opération.

Korrektur (Arterielle Switch-Operation).
Transposition der grossen Arterien, bei der die Hauptschlagader (Aorta) mit dem rechten und die Lungenarterie mit dem linken Ventrikel verbunden ist. Sehr wichtig ist, dass auch die Herzkranzgefässe verpflanzt und wieder mit Sauerstoff versorgt werden. Dieser Teil der Operation ist der heikelste.

Bevor ich mich in dieses chirurgische Abenteuer gestürzt habe, habe ich den maximalen Druck errechnet, den der linke Ventrikel verkraften kann. Mit Yann haben wir ein Maximum von 50 mm Hg festgelegt. Wir hatten den Eindruck, dass wir mit diesem doch ziemlich niedrigen Druck einen für die Bedürfnisse des Organismus ausreichenden Blutkreislauf aufrechterhalten könnten, während der Ventrikel wieder «fit wird».

Es ist möglich, dass die Niere bei diesem schwachen Blutdruck nicht genügend versorgt wird, d. h., die Reinigung des Blutes nicht mehr gewährleistet ist. Um dem abzuhelfen, haben wir die Möglichkeit einer Peritonealdialyse. Dabei wird ein Schlauch (Katheter) in die Bauchhöhle implantiert und der Bauchraum, und damit indirekt auch das Blut, mit Dialyselösung «gewaschen».

Die Operation dauerte vier Stunden. Sie war schwierig. Vor allem deshalb, weil die Herzkranzgefässe, die ebenfalls abgetrennt und vertauscht wieder angenäht werden mussten, anatomisch sehr ungünstig aussahen, was zusätzlich ein erhöhtes Risiko mit sich bringt.
Unnötig zu sagen, dass der kleinste Infarkt bei so einem geschwächten Herzen unsere Niederlage bedeutet hätte. Zum Glück folgte auf die Verpflanzung der Herzgefässe auf Anhieb eine hervorragende Versorgung des Herzens und das ohne, dass es an Kraft eingebüsst hätte. Das Herzmuskelgewebe hat es sogar geschafft einen Druck zwischen 0 und 65 mmHg aufzubauen, genau so viel, wie die Niere braucht, um natürlich zu funktionieren.

Das ist eine teilweise Erleichterung. Aber wie empfindlich das erlangte Gleichgewicht ist, ist uns vollkommen bewusst, als wir das Kind, noch unter Vollnarkose, um seinen Metabolismus möglichst zu schonen, der Intensivpflege übergeben.

Nun geht Evelyne das zweite Kind dieses Tages holen. Eine Kleine von 5 Kilo Körpergewicht, auch sie mit einem Ventrikelseptumdefekt. Durch die Glaswand sehe ich Yann, wie er routiniert und sicher die letzten Operationsvorbereitungen für unser Kind trifft.

Ich meinerseits gehe in die kleine Küche neben dem Operationssaal, um etwas zu essen und mir einen rechten Kaffee zu gönnen. Und ich werde mir die Nachrichten ansehen, von denen ich jetzt schon weiss, wie schrecklich sie sein werden …

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[1] Nach jeder Operation am offenen Herzen wird die postoperative Nachblutung durch die Drainage am Herzen evaluiert.

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