Blog prof. René Prêtre

Okt 27 2019

Mission Kambodscha 2019, 27. Oktober

Post by René Prêtre

Okt 27 2019

Samstag/Sonntag, 26./27. Oktober 2019

Meine Uhr zeigt 3 Uhr. Wir sind hoch oben in den Wolken, zwischen Pyay (fragen Sie nicht, wo das ist, das steht so auf dem Flugzeugbildschirm) und Ragoon. Die Flugbegleiterinnen machen sich bereit, das Frühstück zu servieren. Ich habe ein paar Stunden schlafen können und fühle mich daher ganz gut und nicht zu müde. Gestern sind wir wegen Störungen im Bahnverkehr von Lausanne über Neuenburg und Biel zum Flughafen Zürich gefahren. Dies hat sich aber gelohnt, denn die Landschaft war fantastisch: Die Rebberge entlang des Neuenburger- und Bielersees im Spätsommer sind eine Pracht. In unserem Wagen haben wir uns ein Gläschen ausgezeichneten Walliser Weisswein mit Trockenfleisch gegönnt und über unsere Lieblingsthemen geplaudert – ein bisschen über Ronaldo, ein bisschen über Inter Mailand (dieses Mal haben wir einen richtigen Interista unter uns), über den Rugby-Weltcup (die knappe Niederlage Frankreichs habe ich noch immer nicht verdaut, haben sie doch so viel besser gespielt als die Waliser) … und dann ging es plötzlich um Tattoos – warum auch immer, es gab wirklich keinen Grund dafür –, aber nicht um irgendwelche Tattoos, sondern um diejenigen, denen wir im Operationssaal an den Kragen mussten. Tatsächlich habe ich schon so einige verwüstet, habe schmachtende Meerjungfrauen und brüllende Löwen durchtrennt oder eine der Mutter geweihte Blume auf einem Brustkorb zweigeteilt. Wir haben gelacht und uns die zusammengenähte Meerjungfrau mit «Dalida-Silberblick» oder den brüllenden Löwen mit künstlichem Gebiss vorgestellt. Manuel, der Interista, erzählte uns von einer Episode aus Versteckte Kamera, bei der ein AS-Rom-Fan, der sich das Wappen seines Clubs auf die Schulter tätowieren lassen wollte, ein (Fake-)Tatoo von Lazio Rom erhielt. Als der hitzige Muskelprotz die Verwechslung bemerkte, wurde er so wütend, dass er das Studio kurz und klein schlug. Wir amüsierten uns also köstlich. Dann konnte ich nicht widerstehen und musste diese Katastrophen-Filmszenarien (oder Szenarios? – ich weiss es nie) zur Sprache bringen, die mit unbeschwerten, sorglosen und oft strahlenden Kerlen beginnen, welche, ohne es zu wissen, unwiderruflich auf ein unheilvolles Schicksal zusteuern. Dabei fielen uns Filme ein wie Deliverance, The Deer Hunter oder Everest. Da keiner von uns abergläubisch ist, so hoffe ich zumindest, wandten wir uns darauf beschwingt und ohne weitere Hintergedanken den Details unserer Mission und den vorgenommenen Anpassungen zu (dieses Jahr haben wir zum Beispiel ein hämostatisches Pulver im Gepäck – wir werden sehen, ob das funktioniert).

Ankunft in Siem Reap, die Monsunzeit ist gerade vorbei.

Ankunft in Siem Reap, die Monsunzeit ist gerade vorbei.

8 Uhr auf meiner Uhr, aber 9 Uhr in der Schweiz – 14 Uhr hier in Siem Reap.

Hier. Ja, hier – denn wir sind gerade im Hotel angekommen. In der Zwischenzeit haben die Uhren in der Schweiz auf Winterzeit umgestellt – zum Glück sind wir schon da, so hatten wir nur fünf und nicht sechs Stunden Zeitunterschied!

Schon erhalte ich eine Nachricht von Ladin, der rund zehn «schwere Fälle» (seine Worte) bereithält, die er mit uns heute Nachmittag anhand von Ultraschallbildern besprechen möchte.

Bei jedem Kind wird eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt. Die Diagnosen werden jeweils mit absoluter Genauigkeit gestellt, heute sind sie aber oft etwas verwirrend, da es sich um sehr komplexe Pathologien handelt.

Bei jedem Kind wird eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt. Die Diagnosen werden jeweils mit absoluter Genauigkeit gestellt, heute sind sie aber oft etwas verwirrend, da es sich um sehr komplexe Pathologien handelt.

18 Uhr
Ladins Begriff «schwer» ist wohl noch leicht untertrieben, denn seine Fälle sind extrem komplex – einem dieser Krankheitsbilder bin ich, trotz der unzähligen Ultraschallbilder, die ich in meinem Leben gesehen habe, bisher noch gar nie begegnet.

Im «Warteraum» herrscht gute Laune. Die Tür im Hintergrund führt in den Ultraschall-Untersuchungsraum.

Im «Warteraum» herrscht gute Laune. Die Tür im Hintergrund führt in den Ultraschall-Untersuchungsraum.

Eine solche Sachlage ist wenig erstaunlich, wenn man bedenkt, was für Fortschritte sie hier gemacht haben. Heute operieren sie eigentlich alle häufig vorkommenden Fälle selber – und diese mit den gleichen erfreulichen Ergebnissen wie wir. Diejenigen, die ihnen noch Probleme bereiten, sind für uns genauso schwer zu meistern. So werden wir auf Anhieb – und noch bevor unsere Mission wirklich begonnen hat – mit dem Dauerthema konfrontiert, nicht allen unsere ganze Energie schenken zu können. Das andere immer wiederkehrende Problem, das sich uns bereits stellt, ist das Eingehen grosser Risiken, wo wir uns in Situationen begeben müssen, die nicht gut ausgehen. Natürlich, diese Kinder haben hier ohne Operation keine Chance. Ausserdem erkennt man sofort, dass sie sich im ständigen ungleichen Kampf ums Überleben befinden, der nicht lange anhalten kann. Aber ungeachtet dieser offensichtlichen Tatsache ist es äusserst schwierig, sich in solch risikobehaftete Unternehmungen zu stürzen. Das auf lange Sicht fast vorprogrammierte Scheitern ist immer sehr schmerzvoll.

Wartendes Kind. Zum Glück ist ihr Krankheitsbild nicht allzu schwer.

Wartendes Kind. Zum Glück ist ihr Krankheitsbild nicht allzu schwer.

Die Tatsache, dass wir nicht jeden Tag zwei Kinder operieren können, wird ebenfalls immer klarer (wenn ich an die ersten Missionen denke, bei denen wir täglich bis zu drei Kinder operierten, weil jede dieser Operationen in drei Stunden ausgeführt werden konnte … heute sieht die Lage ganz anders aus). Da steht uns zum Beispiel eine Korrektur bevor, für die wir fünf bis sechs Stunden rechnen müssen. Nach einem solchen Eingriff ist alles total versteift – schliesslich steht man stundenlang regungslos wie eine Mumie da, bis die Gelenke scheinbar «verkleben» – und die psychische Ermüdung ist zu gross und der Cortisol-Spiegel ist zu tief, als dass der Sprung in ein weiteres anstrengendes Abenteuer möglich wäre.

Genug Palaver, mein Team wartet auf mich, damit wir zusammen essen gehen können. Heute Abend gibt es nur etwas Leichtes. Nun spür ich langsam die Müdigkeit.